individuation

                  ° ich kann nicht nicht ich sein. °  Jim Carrey

carl gustav jung war ein schweizer psychiater und der begründer der analytischen psychologie.

„ individuation bedeutet: zum einzelwesen werden, und, insofern wir unter individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare einzigartigkeit verstehen, zum eigenen selbst werden. man könnte ° individuation ° darum auch als ° verselbstung ° oder als ° selbstverwirklichung ° übersetzen.“

nach carl gustav jung (glück, alexandra (2011) selbst-bilder. seite 11) 

jung betrachtete den individuationsprozess als einen lebenslangen, unvollendbaren prozess mit einer stetigen annäherung an ein „fernes ziel“, das selbst, für den der tod die letzte grenze ist. damit setzt er sich vom einseitig ätiologischen (ursächlichen) denken freuds zugunsten im unbewussten angelegter, seelischer endabsichten im hinblick auf integration und ganzheit ab und schließt sich der vorstellung der finalität alfred adlers an. (https://de.wikipedia.org/wiki/Individuation)

laut jung gibt’s in uns unbewusste bedingungen  die sich entfalten wollen, ähnlich wie einer pflanze, die die endgestalt in sich hat. der organismus trägt den plan seines eigenen aufbaus in sich. und jedem anfang wohnt ein zauber inne, ist eine schöne beschreibung die man tagtäglich verwenden kann. der plan der seit geburt ( früher) schon in uns wohnt. beim start ins leben beginnt die reise. ein prozess, „ein trieb per se“ der die menschen lebenslänglich immer wieder neue aufgaben stellt um sich entfalten zu können. selbstregulierend wirkt von innen heraus was reifen will, was gesehen werden will. ein geistiger trieb der uns wachsen lassen will, der sich in uns anordnen will zur optimalen entfaltung. umso ° groß und stark zu werden °, wie es in uns vorgesehen ist.

verena kast, eine psychotherapeutin, dozentin am c.g.jung institut in zürich  hat sich mit jung`s lehre ausführlich beschäftigt und einige bücher zum thema individuation verfasst. 

die titel die für diese arbeit verwendet wurden, lauten: wir sind immer unterwegs. gedanken zur individuation; lass dich nicht leben, lebe; die eigenen ressourcen schöpferisch nutzen; sich wandeln und sich neu entdecken.  

„der individuationsprozess ist ein konsequentes  fragen nach mir selbst in der beziehung zu meinem unbewussten, meinen mitmenschen, der mitwelt.“                                 

(glück, alexandra (2011) selbst-bilder seite 19)

zwei aspekte in der individuation: zum einen wissen wir in keinem moment unseres lebens abschließend, wer wir sind und wer wir sein können; zum anderen steht das individuationsprinzip in steter auseinandersetzung  mit dem, was man in einer bestimmten kultur von einem menschen erwartet. das was man so tut und denkt, wie man zu fühlen hat, das entspricht gerade dem individuationsprinzip. sich selbst werden heißt also zum einen, immer mehr herauszufinden, das denn eigentlich stimmig ist für uns, und zum anderen den konflikt auszuhalten zwischen unseren persönlichen bedürfnissen und den gesellschaftlichen erwartungen. individuation bedeutet, im gelebten alltag zu entdecken, wer wir wirklich sind, was an ganz spezifischen möglichkeiten in uns angelegt ist. wir können unser eigenes wesen kennenlernen, indem wir bewusst wahrnehmen, was besser, was schlechter zu uns passt. wir können aber insbesondere auch unbekannte seiten in uns entdecken. im laufe unseres lebens kommen wir immer wieder in situationen, die uns überraschen, werden immer wieder seiten an uns sichtbar, mit denen wir eigentlich nicht gerechnet haben. 

wir haben viel fremdes in uns, unbewusstes, ungewusstes – wir sind uns immer für überraschungen gut. dieses unbekannte  in uns kennenzulernen ist ein aufregender erkenntnisprozess. oft wird er gerade durch konflikte befördert, die uns zeigen, welche seiten entwickelt werden müssen.              

c. g. jung sah die individuation als einen lebenslangen prozess der unbewussten auseinandersetzung  des ichs mit dem persönlichen und dem kollektiven unbewussten einerseits und den kollektiven bewusstsein andererseits. er sprach davon, dass dabei der schatten des menschen mehr und mehr bewusst wird. bei der bewusstwerdung des schattens geht es darum, dann man die seiten an sich entdeckt, die man bis anhin vor sich verbergen wollte, verdrängte und in der folge bei anderen menschen sah und bekämpfte. den schatten zu integrieren bedeutet, sich immer mehr zu sehen als einen menschen im spannungsfeld  zwischen dem, was man sein möchte, und seinem schatten, immer mehr auch verantwortung für diese unangenehmen seiten in sich zu übernehmen. das hat zur folge, dass man diese nicht mehr auf die anderen menschen überträgt und sie ihnen anlastet. dadurch wird unser selbstbild realer, das leben blutvoller und lebendiger. gelegentlich wird Individuation auch als weg  zur größeren ganzheit bezeichnet. diese ganzheit entspricht dem selbst im jungsche verständnis, das weit über das ich-bewusstsein hinausgeht und die vergangenheit  und die zukunft der persönlichkeit umfasst. das selbst wird auch verstanden als antrieb zu einer lebenslangen  entwicklung, einer kontinuierlichen auseinandersetzung zwischen dem ich und dem unbewussten hin zur angestrebten ganzheit. dies bedeutet natürlich nie die totale verwirklichung des selbst, das ist in unserem menschsein nicht möglich. ganzheit ist zu jeder zeit etwas anderes. sie kann dahin gehend verstanden werden , dass immer mehr aspekte der eigenen persönlichkeit gesehen und gelebt werden können, dass immer mehr von dem, was zu leben ansteht, auch wirklich gelebt werden kann, dass wir immer echter, immer authentischer, immer mehr wir selbst werden können. das heißt aber auch, dass wir widersprüche in unserer persönlichkeit besser auszuhalten vermögen. der mensch  ist in der jungschen sicht vernetzt – letztlich auch mit dem kosmos.  (kast, verena (2000); wir sind immer unterwegs, seite 9-11)

im weltbild der jungschen psychologie gilt, dass das, was außen ist, auch innen, was innen, auch außen ist. 

(kast, verena (2000); wir sind immer unterwegs, Seite 20)

wir sollen heiter raum um raum durchschreiten, 

an keinem wie an einer heimat hängen,

der weltgeist will nicht fesseln uns und engen, 

er will uns stuf’ um stufe heben, weiten.

kaum sind wir heimisch einem lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht erschlaffen,

nur wer bereit zu aufbruch ist und reise, mag lähmender gewöhnung sich entraffen.

… (hermann hesse, 4.5.1941)

autonomiestreben bezieht seinen wert aus einem denken, das dem individuationsprinzip verpflichtet ist: jeder mensch hat eine bestimmte aufgabe, die er erfüllen muss, die in seinem leben angelegt ist, also letztlich sein schicksal ist. um diese seine aufgabe erfüllen zu können, muss er sich immer wieder aus den notwendigen abhängigkeiten, die ja immer auch eine lebenshilfe bedeuten, lösen und sich aus ihnen herausentwickeln. um autonomer werden zu können, braucht es manchmal viel list, nicht nur der umwelt, sondern auch sich selbst gegenüber.  

immer wieder muss man sich überlisten, damit man trotz aller ängste  und enttäuschungen sich wieder auf den weg macht. (kast, verena (2000); wir sind immer unterwegs, seite 41)

zum individuationsprozess gehört, sich einverstanden zu erklären mit dem, was man ist (nicht aber in dem sinne, dass man nichts verändern will), sich einverstanden zu erklären mit gewissen grundbedingungen, die nicht wegzudiskutieren sind. gerade indem man diese grundbedingungen akzeptiert, kann man beharrlich grenzüberschreitung üben. 

(kast, verena (2000); wir sind immer unterwegs, seite 18)

den weg zu uns erkunden wir in liebevoller zuwendung unserer aufmerksamkeit nach innen, einen zugang zum inneren erleben zu finden, damit man mit dem inneren in kontakt treten kann. es steht die begegnung mit dem unbewussten im vordergrund. eine sprache für das unbewusste zu finden um einen dialog zwischen bewusstem und unbewusstem  zu ermöglichen für eine gute zusammenarbeit zwischen innen und außen, bewusstem und unbewusstem. 

° in jedem ruht ein bild dess`, 

was er werden soll, 

solang er das nicht ist, 

ist nicht sein friede voll. °

(zitat angelus silesius)

inneres unbewusstes  will sich befreien und projeziert sich nach außen, somit wird Inneres äußerlich. innere bilder wollen wahrgenommen, ernstgenommen und gestaltet werden, zum ausdruck kommen. c.g.jung sagte: „das unbewusste will ereignis werden.“ 

die innere wirklichkeit  will erkundet und erforscht werden. eine innenschau erweist sich als sinnvoll um aus dem grenzenlosen land des unbewusstem brachliegende inhalte zu entdecken, talente zu heben und formen zu können. ressourcen lassen sich dadurch finden und erschließen. es geschieht der prozess der mit der entdeckung einher geht, die entfaltung unserer eigenen person. aus diesem gehen wird der weg, unser weg welcher im mittelpunkt steht.    

die not wird als voraussetzung für das eintreten des individuationsprozesses gesehen. krisen zwingen uns hinzuschauen, dass wir uns unserem unbewussten widmen. auch die schattenseiten zeigen sich in krisenzeiten in denen wir aufgefordert werden mit ihnen zu arbeiten, spielerisch,  gestalt zu verleihen und sie anzunehmen.  durchhalten und üben sind wichtige zutaten um den prozess zu durchleben, emotional, nach innen. wenn es gelingt nicht in der verletzung zu verharren, sondern selbst sich zu wandeln und entfalten, im prozess zu bleiben, eröffnet sich eine schatzkammer. 

wertvolle schätze wollen gehoben werden. der verborgene sinn der sich in der krise versteckt, ist es wert erkannt und angenommen zu werden um in der zukunft sich wiederholungen zu ersparen.

es liegt in der bewegung nach vorne, auch manchmal zurück. wichtig ist in bewegung zu bleiben. man kann auch mal verweilen. kraft schöpfen und die momente genießen. es gehört auch dazu sich mental hinzusetzen und tief luft zu holen, eine verschnaufpause zu machen. es kann gut sein, dass es wichtig ist, sich richtig in die emotionen einzulassen, fest zu weinen um das alte sein lassen zu können oder laut von ganzem herzen zu lachen und die pause danach zu genießen. 

jegliche emotionen wollen gelebt werden. es passt genau so wie es für den jeweiligen menschen sich gut und richtig anfühlt. ein aufmerksames lauschen nach innen ist ein guter Parameter. nebenbei fast ohne dass man es merkt, lernt man sich besser kennen. man gewinnt an selbst- vertrauen. es passiert eine integration – ein herein-holen von verschiedenen aspekten des lebens – ein integrationsprozess – der auch individuation genannt wird.

mit all den möglichkeiten mensch zu werden. uns selber ernst zu nehmen, ein sattes schöpfen aus den inneliegenden möglichkeiten…kurz um ein entfalten, die erfüllung des eigenen lebens sollte das ziel sein – c.g.jung nannte das ziel „ein fließendes werden.“

„lernen wir mit unserem inneren geschehen zu fließen, 

so nehmen wir unser scheitern an, 

lernen daraus und gehen verzeihend 

auf unseren nächsten entwicklungsschritt zu.“ 

(ella, seite 12)

wir sind nicht nur in das leben geworfen, sondern wir sind auch von ihm getragen. es gibt nicht nur die angst, es gibt auch die freude. durch dieses getragensein können wir uns wandeln – allerdings auch durch das geworfensein. doch wandeln wir uns durch das getragensein auf einem anderen weg: hier verbinden wir uns in der symbiose mit anderen menschen und auch mit unserem unbewusstem, wir erleben dadurch mehr lebensfülle, stärke, aufgehobensein; wir erfahren selbstsein in der selbstvergessenheit, nehmen unsere vitalität und den reichtum des entdeckbaren wahr. 

(kast verena, wir sind immer unterwegs. seite 22)

marion weber
dipl. supervisorin
dipl. klinische kunsttherapeutin
dipl. psychologische beraterin
sachsengasse 97
A-6465 nassereith